schluesselworte

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abgelegt und fortgegangen (c) Dieter Vandory

Donnerstag, 15. Dezember 2011

Cheb - Eger, 1994 - Claus Stephani

Gast auf meinem Blog ist im Dezember der Ethnologe, Schriftsteller, Kunsthistoriker und Journalist Dr. Claus Stephani.
Im siebenbürgischen Kronstadt geboren, verließ er 1990 seine Heimat und lebt seither bei München.
Seine zahlreichen Publikationen - ob Lyrik, Prosa, Oral History, Märchen, Sagen - beweisen jedoch, dass er wie kein Zweiter eigentlich beheimatet ist im Wort.
Ihm hinterher zu lauschen, es abzuklopfen, stets zu hinterfragen ist seine Lebensaufgabe. Und es sind meist die leisen Töne, die Zwischenklänge, die in den Texten von Claus Stephani einen Zauber entfalten, dem man sich nur schwer entziehen kann.
Sein letzter Roman, Blumenkind, ist im SchirmerGraf Verlag, 2009 erschienen.





/c/ Dieter Vandory, verbunden mit dem eigenen Schatten, 2011




  

    

Cheb – Eger, 1994

oder Meth und Emeth


Von Claus Stephani



     Aus der Stadt führt eine Straße den Berg hinauf. Sie windet sich vorbei an Häusern, die immer noch dastehen, als wären sie Bettler. Es ist eine Straße, auf der viele Autos fahren, auch solche mit fremden Kennzeichen, und irgendwann führt diese Straße an einem Friedhof vorbei.
     Wer es eilig hat, sieht links hinter verfallenem Gemäuer hohe dunkle Bäume, und dazwischen im wuchernden Gesträuch Grabsteine, vereinzelte graue Steine wie Schatten.
     Wer es nicht eilig hat, kann jetzt kurz abbiegen und bis zu einem Tor fahren, das meist offen steht und auf Menschen wartet – solche, die kommen und gehen, und solche, die bleiben.
     Dahinter liegt nämlich ein Ort der Ruhe, wie es früher im Osten hieß, ein Ort, wo jene ruhen sollten, die diese Welt verlassen mussten, unfreiwillig oder freiwillig, um hinüber zu gehen, hinüber – das ist die andere Welt, die man nicht kennt, wo man aber, heißt es, bis zum Jüngsten Tag in Frieden ruhen kann.
     Wer es also nicht eilig hat, der sollte hier anhalten, es gibt genügend Parkplätze, und er kann dann auch auf den Friedhof gehen, dem Ort des Friedens, wo die Tschechen ruhen – Tschechen mit tschechischen Namen, Tschechen mit deutschen Namen, mit tschechischen Vornamen und deutschen Nachnamen, und auch umgekehrt, in vielfältiger Schreibweise. Alle liegen sie da, nebeneinander und einträchtig.
     Was sollten sie auch anderes tun? Das, was sie einst zu Lebzeiten getan haben – wer kann darüber noch etwas sagen? Hoffnungen, Ängste, Freude und Liebeskummer, alle diese wichtigen Dinge haben sie mitgenommen, und zurückgeblieben ist eine Inschrift, zwei Worte, die man jenen mitgibt, die mit leeren Händen diese Welt verlassen, so, wie sie einst ihr Licht erblickt hatten, nackt und hilflos – zwei Worte, ein Wunsch, ein Versprechen: Ruhe sanft!
     Wer es aber immer noch nicht eilig hat, kann hier über dieses und jenes nachdenken – beispielsweise darüber, dass die meisten gepflegten Gräber erst in den letzten fünfzig Jahren angelegt wurden. Und er kann dabei zwischen Blumen und Gräberreihen auf breitem Kiesweg weitergehen bis zu den dunklen Bäumen – ich sah sie zuvor, als ich wie beiläufig aus dem fahrenden Auto blickte. Und dort, man kann es kaum erkennen, war bis vor nicht allzu langer Zeit auch ein Ort des Friedens und der Ruhe: ein deutscher Friedhof.
     Zuerst kommt man an einigen mächtigen Grüften und Grabmalen vorbei, und da gibt es noch Bruchstücke von deutschen Namen, Teile von Inschriften, einzelne Worte. Sie stehen da wie offene Hände, die niemand mehr anfassen will und die sich nicht mehr schließen können, weil sie niemandem mehr gehören.                                                            
     Wer dann noch einige Schritte weitergeht, betritt ein kahles Feld, wo kein Gras wächst, weil die Erde erst vor kurzem aufgeschürft wurde. Und plötzlich wird eines deutlich: Es sind Gräber, über die man geht, Gräber, Gräber, Hunderte von Gräbern, dazwischen Teile und Teilchen von Grabsteinen, Holzstücke, Teile von Särgen, Knochen, Teile von Menschen – Menschen, die einst hier mit dem Spruch „Ruhe in Frieden“ verabschiedet worden sind.
     Wo aber ruhen nun jene viele sanften Toten, deren Gräber ein Bagger eingeebnet hat? Ein Bagger, der im Schatten der Bäume verschnauft und erschöpft vor sich hin rostet. Und gleich daneben ein Haufen von Bruchstücken, die einst Grabsteine waren, ein Haufen zerbrochener deutscher Namen, die hier warten, um als Schutt oder Sondermüll weggeschafft zu werden.
     Meth und Emeth heißt es auf Hebräisch, zwei Worte, die sich durch einen einzigen Buchstaben unterscheiden, weil zwischen Tod und Wahrheit ein schmaler Graben verläuft, keine Grenze, denn Grenzen werden von Menschen errichtet, nur ein schmaler Graben, manchmal kaum sichtbar, der trennt, aber auch verbindet.                                                           
     Wo der Tod ist, das wissen wir: Er ist überall dort, wo auch Menschen sind. Wo aber ist die Wahrheit, die hier von einem Bagger beiseite geschoben wurde? Oder sollte Meth, der Tod, selbst ausgelöscht werden, wo doch nur er allein alles, auch das Gedächtnis, die Erinnerung auszulöschen vermag? Eine Tat, die den Tod ungeschehen machen möchte, indem sie ihn aus dem Zeitgeschehen hinausbaggert? Und wenn es hier keinen Tod gegeben hat, dann war ja hier auch kein Leben.
     Wer es bisher nicht eilig hatte, sollte nun nicht einfach umkehren, denn er kann hier, auf eingeebneten Gräbern stehend, still verweilen. Er kann dabei auch eine Zigarette rauchen, wie es gerade der Friedhofsgärtner tut. Er kann dastehen oder herumgehen, so lange es seine Zeit erlaubt. Er könnte aber auch einmal versuchen, ein wenig nachzudenken über Meth und Emeth, hier am Ort der Ruhe, der Wahrheit, des Friedens.
     Von der nahen Straße hört man laute Autos, die den Berg hinunter rasen und einander an Arroganz überbieten. Aus den Bäumen fällt unentwegt Vogelgezwitscher. Ein sanfter Sommer ist ins böhmische Land gegangen. Der Friedhofsgärtner ruft etwas in die Richtung der gepflegten Gräber, wo ein Mann mit einem Rechen hantiert. Und nur aus der verwundeten Erde unter unseren staubigen Schuhen kommt, man kann es fühlen, das endlose, schmerzliche Schweigen.


(Aus dem Tagebuch Böhmische Marginalien, 1993-1995.)

Samstag, 10. Dezember 2011

was noch zu sagen wäre ...

/c/ dieter vandory, flumsel, 2010



ein kaltmond
schlägt sein rad um und um
gewendet wird die nacht
bis selbst im traum
nur eisworte erblühn

was nicht gesagt wird
hält wort bei tag




/c/ monika kafka, 2011

Montag, 5. Dezember 2011

zwischenwÖrtlich - eine gemeinschaftsarbeit diana jahr & monika kafka

/c/ dieter vandory, gefangen im licht, 2011



schatten tanzen
im innern
schneesturm


verlöscht
die wortkerzen
am tor zur nacht, grau


erhebt sich
duft aus weiß
durchsichelt das zwielicht


und du denkst dich, weit
ins kristallland
der träume




/c/ diana jahr und monika kafka, 12/2011

Montag, 28. November 2011

zum beispiel


/c/ dieter vandory, ruhe und wut, 2010


ausspähen
die nacht und ob
sich was schreiben ließe
gegen den faltenwurf
der dunkelheit ein zeit-
wort setzen schwach, gebeugt
lieben
zum beispiel



/c/ monika kafka, 11/11

Dienstag, 22. November 2011

Ein alter Reisepass



Schlammiges Braun verziert mit goldenen Lettern. Selbst nach einem Vierteljahrhundert hat er nichts von seiner Scheußlichkeit verloren. Und dennoch war er einmal wertvoller als alles Gold dieser Welt.
Kraftvoll atmet mir auch heute noch das Papier entgegen. Ich rieche Armut, Angst und Tränen. Lauter Dinge, die es unter dem eingeprägten, ebenfalls goldenen Staatswappen offiziell nicht gab.

Mit spitzen Fingern durchblättere ich die Zeit und sehe die vielen vorgehaltenen Hände wieder, hinter denen sich der Unaussprechbare in ungenauen Flüsterworten verbarg: ihn hatte man beantragt, bekommen oder nicht, er war wieder in weite Ferne gerückt, man erwartete das Dokument in den nächsten Tagen, Monaten, Jahren, es war endlich da! Und manchmal musste man auch gar nicht flüstern. Manchmal genügte ein Schrei oder ein Leuchten der Augen, damit es alle wussten.

Ich höre mich immer noch schreien, wenn ich an jenen Tag zurückdenke, an dem ich ins Foyer des Studentenwohnheims, zu dem einzig verfügbaren Telefon gerufen wurde. Mutter sprach leise, sehr leise, so als ob die Abhörgeräte damit außer Betrieb gesetzt werden könnten. Beschwörend klangen ihre Worte. Ganz ruhig, mein Kind, bleib ganz ruhig, verstehst du mich, sagte sie. Aber ja doch, ja, ja, antwortete ich und wagte kaum zu atmen.
Wer ist gestorben, Mama?
Unsere Vergangenheit, mein Kind, sagte sie mit tonloser Stimme. Ich verstand immer noch nicht, vielleicht weigerte ich mich auch nur, zu begreifen, wieso war sie so gefasst, fragte ich mich stattdessen, wenn es doch offenbar etwas zu beklagen gab.

Seit wann verwendet Mutter eine metaphorische Sprache, wenn sie mit mir spricht, wunderte ich mich gerade noch, als sich mit einem Mal dieser Schrei löste, dieser hab-alles-begriffen-Schrei. Fiel durch den Hörer zu Mutter, die ihn nicht halten konnte, kehrte zurück, prallte an die Wände und landete schließlich wie ein Echo hundertfach verteilt mitten unter den redenden und lachenden Studenten.
Die plötzlich eingetretene Stille starrte mich aus wissenden Augen an.

Ich zitterte, während ich weiterhin versuchte, Mutters Stimme zu folgen, ihren Worten Inhalte zuzuordnen, ich erinnerte mich an signifiant signifié aus den Linguistik Stunden, das muss doch irgendwie klappen, dachte ich, und verstand doch nur, was mein Herz mir in die Schläfen trommelte: Du bist frei!

Was diese Freiheit bedeutete, sollte mir allerdings erst klar werden, als ich den Pass an einem nasskalten Novembertag in Empfang nehmen durfte. Und was sie gekostet hatte, das erfuhr ich Jahre später.

Ich durchblättere mit spitzen Fingern die Zeit.
Nichts ist verblasst im Laufe eines Vierteljahrhunderts.
Nicht die ungelenke Unterschrift, die ich damals mit blauer, chinesischer Tinte und feingliedrigem Füller, einem Geschenk meines Vaters, geleistet habe.
Nicht der Satz, der mich gleich in drei Sprachen für vogelfrei erklärte: rumänisch, russisch und französisch. Pour personnes sans citoyenneté  steht unverrückbar da, was so viel bedeutet, als dass ich nirgendwohin mehr gehörte. Und auch nicht die eingestempelten Durchreisevisa der Länder, die ich bis dahin nur dem Namen nach kannte.
Alles ist immer noch deutlich lesbar wie am Ausstellungstag.
Ich trug es, dieses heute noch stinkende Golddokument, in den nächsten Tagen und Wochen stets wie eine Trophäe bei mir und genoss meinen vorerst größten Triumph: eine Nacht im ausschließlich den zahlungskräftigen, ausländischen Studenten vorbehaltenen Wohnheim, in dem mein damaliger Freund wohnte.

Und was diese neue Freiheit denn nun gekostet hat?
Geld, das für Pass und Visa, für den Verzicht auf die eine Staatsbürgerschaft und den Erwerb einer neuen gezahlt wurde, lässt sich zählen. Selbst mit Gold nicht auszugleichen bleibt allerdings dieses lebenslange Gefühl, wie eine Ware verschachert worden zu sein. Und dabei etwas verloren zu haben. Etwas, was gemeinhin als Heimat bezeichnet wird.

Heute lebe ich in einer süddeutschen Stadt, von der ich einst großzügig adoptiert worden bin, besitze keinen gültigen Reisepass mehr und kenne dennoch mittlerweile eine Vielzahl von Ländern – nicht nur dem Namen nach.
Und im Übrigen versuche ich neuerdings, mich in einer Art inneren Heimat einzurichten, der einzigen wohl, die man nicht wieder verlieren kann, denke ich an guten Tagen, aber das ist dann wiederum eine andere Geschichte.



/c/ Monika Kafka, 2011

Mittwoch, 16. November 2011

Im November ...

... ist die Fotografin und Lyrikerin Tabea Vahlenkamp Gast auf meinem Blog.
Geboren und aufgewachsen in Thüringen, lebt sie heute mit ihrer Familie bei Berlin, wo sie ein eigenes Fotostudio betreibt.

Ihre Motive findet sie in der Natur. Auf Spaziergängen, oft an der See, sind es die kleinen, unscheinbaren Dinge, die ihr geschultes Auge ausfindig machen, festhalten und stimmungsvoll gestalten.

Ihre fotografischen Arbeiten waren nicht nur in Ausstellungen zu sehen, sondern im Zusammenhang mit ihren filigranen Gedichten auch schon in diversen Büchern zu genießen.
Als letztes ist im hs-verlag erschienen Im Stillen wohnt ein kleines Glück - ein Titel der durchaus als Programm für ihr Arbeiten zu verstehen ist.

/c/ Tabea Vahlenkamp, Kraniche

november am see

Wo deine Seele farbig floss ergießt
Sich heute Nebel weiß umrandet liegt
Der See von kahlen Bäumen tröpfeln Träume
So ausgedünnt und sacht als wär es Schnee

Ein schwarzer Rauch umflort die Ufer kalt
und brandig schmeckt die Luft von fern durchweht
ein Seidenton die Stille Dunkles ruht
im Haar der Weide altert stumm die Zeit


/c/ monika kafka, 11/11

/c/ Tabea Vahlenkamp, Leuchten
/c/ Tabea Vahlenkamp, Träumen

Mittwoch, 2. November 2011

blutbuche




/c/ thom kafka, 2011




im alternden licht
rinnt ihr das gold aus
gebreiteten armen

im rindenmantel
wächst grau
das narbengeflecht

dazwischen
verwaisen träume
gebrochen

wie zauberstäbe
unverständlich
bleiben geritzte zeichen




/c/ monika kafka, 11/11