schluesselworte

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abgelegt und fortgegangen (c) Dieter Vandory

Samstag, 30. Juli 2011

Der Weg des Onkels




Nachdem er den Tag verräumt hatte, setzte sich der Onkel auf die Bank vor seinem Haus und blinzelte in die untergehende Sonne. Die Turmuhr schlug sechs Mal und dazwischen knallten Peitschenhiebe. Von einer lärmenden Kinderschar begleitet, würde das Vieh bald die Dorfstraße entlang kommen, angetrieben von Ion, dem Hirten.

Umständlich drehte sich der Onkel, der nicht mein Onkel war, eine Nationale. Zündete sie an, lehnte sich zurück und stieß genüsslich blaue Kringel in die Luft.
So wartete er bei schönem Wetter immer, auch wenn vor seinem Tor schon seit Jahren keine Kuh mehr stehen blieb. Wartete auf diesen Augenblick, da der Tag dem Abend die Hand zum Abschied reichen würde.

Bevor es jedoch soweit war, saß er einfach nur da. Rauchte und lächelte in den schmalen Lichtstreifen am Horizont. Hatte er die Augen geschlossen, schien mir, als würde sich hinter seinen Lidern der Vorhang zu einem geheimen Theater heben, in dem er der einzige Zuschauer war.

Ich habe ihn nie gefragt, was auf dieser Bühne gespielt wurde. Ich setzte mich einfach zu ihm in seine Stille.

Manchmal, wenn er die Augen kurz öffnete und mich sah, lachte er mir zu. Dann hüpfte der kleine Schnauzbart an seiner Oberlippe auf und ab, und die bauschigen Ärmel seines Leinenhemdes legten sich an den Schultern in windige Falten.

Es schwieg sich gut zusammen.

„Der Onkel träumt“, pflegte seine Frau zu sagen.

Ich wusste schon damals nicht genau, was sie damit meinte. Wie kann der Onkel denn träumen, wenn er doch gar nicht schläft, fragte ich mich stattdessen.
Und selbst heute bin ich mir nicht sicher, ob die Tante ihn insgeheim darum beneidete oder ob sie nicht doch leise über ihn spottete.

Sie hatte ihre Haare zu zwei Zöpfen geflochten, die sie festgesteckt um den Kopf herum trug. In diesem Haarnest verbargen sich ihre Gedanken. Und vielleicht, so malte ich mir weiter aus, auch ihre kleinen Spatzen, die sie nicht hatte großziehen können. Deshalb war sie Kinderfrau geworden, hatte mich lieb und ihre Lieben dennoch stets bei sich.

Für die Tante nämlich, die nicht meine Tante war, war der Tag niemals verräumt. Sie hielt ihn ständig in den Händen. Nur in der Kirche faltete sie ein Gebet dazwischen. Sonntags. Und nur wenn sie danach, noch in Festtagstracht gekleidet, neben ihrem Mann auf der Bank saß, legte sie die Hände in den Schoß. Dann ließen beide, Onkel und Tante, das Leben auf der Straße an sich vorüberziehen: schwatzende junge Menschen, Städter auf Verwandtschaftsbesuch, vereinzelt Fremde und immer häufiger durchrasende Autos.

Eines Tages, ich war schon längst erwachsen, kam auch ich mit einem dieser fremden, schnellen Autos von weither angereist. Ich setzte mich wie früher neben den Onkel auf die Bank in der dünnen Sonne. Nach einer Weile fragte er plötzlich:

„Sag mal, wie schaut es denn heute eigentlich in München aus?“

Ich war so verblüfft, dass ich ihn zunächst nur ungläubig anstarrte. Noch nie hatte er mich während seiner Abendstunde angesprochen.

Was soll ich ihm erzählen von einer Stadt, einer Großstadt, deren Ausmaß an Leben und Weite er, der seine kleinen Tage in seinem kleinen Dorf verbrachte, sicherlich nicht wird begreifen können? Und meine Antwort ließ auf sich warten. Zu lange, denn er fuhr fort:

„Erzähl mir vom Marienplatz. Es ist doch bestimmt wieder alles aufgebaut und schön hergerichtet worden. Beschreib es mir. Und dann den Rindermarkt, die Straße mit der Asamkirche, ach ja, und das Sendlinger Tor, die Sonnenstraße ... Gibt es wieder Trambahnen?“

Jetzt verschlug es mir erstrecht die Sprache. Die Straßennamen, der Rathausplatz, er sprach alles so selbstverständlich aus. Nannte zusätzlich Details, als befände er sich gerade auf einem Spaziergang durch die Innenstadt, als sähe er Bilder, die ich niemals gesehen hatte. Und dann erzählte er weiter: von zerstörten Häusern und Straßen und herumirrendem, hungrigem Leid, von löchriger Angst und müden Soldaten, von wunden Füßen und schmerzhaften Wegen und schließlich von dem einen, unendlich langen. Durch all die Aschezeit hindurch bis ins Land jenseits der Wälder. Zurück nach Hause.

Von diesem Tage an saß der Onkel nicht mehr allein in seinem Theater, wenn ich ihn besuchte. Und vielleicht hatte sich auch die Vorstellung allmählich zu verändern begonnen. Für ihn. Ganz sicher jedoch für mich.



/c/ monika kafka, im grüngefädelten licht, 2008

8 Kommentare:

  1. Ein gutes Stück weit atmet diese "Weg"-Geschichte nach meiner Leseerfahrung eine ganz ähnliche Atmosphäre wie "Der Feldweg" von Martin Heidegger.

    "Es schwieg sich gut zusammen." Im ersten Moment nahm ich an diesem 'Kommentar' der Erzählerin Anstoß. Dann den Denkanstoß: das will etwas heißen. Etwa die Ruhe vor dem Sturm, der - nach Walter Benjamin - den Engel der Trümmerhaufen vor ihm auftürmenden Geschichte in die Zukunft treibt.

    So steckt in dieser kleinen Onkelgeschichte die Weltgeschichte wie in einer Nussschale.

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  2. schluesselworte30. Juli 2011 um 10:44

    lieber leo,

    was für ein schöner kommentar!

    ich danke dir ganz herzlich!

    liebe grüße,
    monika

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  3. liebe mo,

    das ist ein wundervolle, intensive geschichte, die so fesselnde bilder entwickelt in deiner wundervollen sprache, dass man unwillkürlich das gefühl hat, hat stummer, unsichtbarer gast neben den beiden sitzen zu dürfen.

    ich bin begeistert und es ist mir eine große ehre, dass du mein bild dazu gewählt hast.


    lieber gruß
    isabella

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  4. liebe isabella,

    dein bild passt einfach hervorragend zu diesem text und ich danke dir, dass du es mir zur verfügung gestellt hast!

    es freut mich sehr, dass du so mitgehen kannst mit meinen worten, dass dich diese geschichte, die mir nach wie vor sehr am herzen liegt, berührt.

    liebe grüße,
    mo

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  5. Eine wunderbare, intensive Geschichte, liebe Mo, die mich anrührt.

    Liebe Grüße
    Deine ELsa

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  6. Eine sehr überraschende Wende! Mit allem hätte ich gerechnet (z.b. dass der Onkel erotischen Phantasien nachhängt) aber damit nicht. Sehr eindrücklich. Ich könnte mir diesen anekdotenhaften Text sehr gut auch in einem größeren Kontext - bis hin zum Roman - vorstellen.

    LG
    Till

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  7. es freut mich sehr, dass du sie immer noch magst, dass sie für dich nichts von ihrer intensität verloren hat.

    hab dank für deine rückmeldung, meine liebe!

    deine mo

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  8. lieber till,

    hab dank für deine anerkennenden worte.
    (und herzlich willkommen auf meinem blog!)

    tja, meine prosa ...
    sie ist im grunde genommen für mich wie ein etwas breiter angelegtes gedicht. ich weiß nicht, ob ich wirklich in der lage wäre, sie auszubauen, die figuren zu entwickeln und richtig spannende (sprich packende) dialoge zu gestalten, von denen ja geschichten leben ...

    ich sehe mich als einen durch und durch lyrischen menschen, ich liebe momentaufnahmen und die herausforderung, sie festzuhalten in dichten bildern und verdichteter sprache.

    aber wer weiß? - vielleicht wage ich ja doch irgendwann etwas "größeres", wenn ich der ansicht bin, das handwerkszeug dazu einigermaßen zu beherrschen ...

    lieben dank!

    monika

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